Kinder brauchen Fürsorge

74_B. Peball_kleinBÖE: Jesper Juul, es gibt eine europaweite Entwicklung, zu der ich Sie gerne befragen würde. Seit 2002 gibt es die Barcelona-Ziele des Europäischen Rates, die festlegen, dass für mindestens 33% der unter dreijährigen Kinder Betreuungs-plätze zur Verfügung stehen sollen. Dieses Ziel ist Bestandteil der europäischen Wachstums- und Beschäftigungsstrategie und soll die Beschäftigungsrate junger Eltern erhöhen und zur Geschlechtergleichstellung beitragen. Aus Geldmangel entsprechen die Betreuungseinrichtungen nicht immer den empfohlenen Qualitätsstandards. Was haben Sie dazu herausgefunden in den letzten Jahren – was macht das mit den Kindern und den Familien? Oder, was prognostizieren Sie diesbezüglich?

Jesper Juul:
In Skandinavien haben wir in den letzten 30 Jahren die frühkindliche Betreuung stark ausgebaut. Nur war es zu Beginn eine Vereinbarung zwischen Industrie, konservativen Politikern und Frauen. Ich glaube, dagegen kann man nichts sagen. Die andere Frage ist natürlich: Ist das auch für die Kinder gut? Und das – muss man allen Ernstes sagen – das wissen wir nicht, weil es keine Forschung gibt. Empirische Forschung war bisher einfach nicht möglich, weil die Entwicklung so schnell gegangen ist. Es war unmöglich, in den letzten 30 Jahren 30.000 Kinder in Krippen mit 30.000 Kindern zu Hause zu vergleichen, um langfristige Ergebnisse zu bekommen. Was wir feststellen können ist: Parallel zu dieser Entwicklung klagen die Schulen, dass die Kinder keine soziale Kompetenz haben – und das war ja eigentlich das Hauptargument für die Tageseinrichtungen. Wir haben 50, vielleicht 100-mal so viele Kinder mit Sonderbedürfnissen sowohl im Kindergarten- als auch im Schulalter. Also könnten wir ganz ganz schnell eine traurige Geschichte erzählen. Aber inwieweit das tatsächlich mit dem Phänomen der frühen Sozialisation in Tageseinrichtungen zusammenhängt, das weiß niemand. Wir kennen ganz genau die Prozentzahl der Einjährigen in Dänemark, bei denen der Zeitpunkt der Eingewöhnung einfach zu früh ist. Und die reagieren mit großen Ängsten. Aber auf der anderen Seite stehen wir den Müttern gegenüber (oder den Eltern). Weiß eine Mutter, dass das Kind, wenn es so ungefähr 11 bis 12 Monate alt ist, in acht Tonalitäten weint, und erkennt sie die Panik? Wenn das nicht so ist, und auch die BetreuerInnen die Bedürfnisse des Kindes nicht erkennen – ja, dann hat das Kind Probleme.

BÖE: Würde es Ihrer Meinung nach etwas ändern, wenn klar definiert wäre, welche Qualität eine Krippe haben müsste?

Jesper Juul:
Ja, das wäre viel besser. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass das nicht gewollt wird. Bei meinen Besuchen in den Ministerien ist mir klar geworden, dass die Forschungsergebnisse zur empfohlenen Qualität der Einrichtungen bekannt sind, z.B. wie viel Quadratmeter pro Kind gesund ist, wie viele ErzieherInnen pro Kind benötigt werden … aber das wird trotzdem ignoriert.

BÖE: Bestimmte Initiativen, wie die Elternverwalteten Kindergruppen Österreichs, versuchen, nach dieser Best Practice zu arbeiten.

Jesper Juul:
Ja, das ist erfreulich. Andere Eltern, z.B. in Schweden, haben sehr sehr heftig gegen unpassende Rahmenbedingungen protestiert ..

BÖE: Der Betreuer-Kind-Schlüssel, das gesunde Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, wurde langsam überschritten. Plötzlich waren nicht 17, sondern 22 Kinder in der Gruppe. Da sind die Eltern aufgewacht. Dasselbe in Dänemark. Hat das etwas bewirkt in der Politik, dass die Eltern sich artikuliert haben?

Jesper Juul:
Nein. Das macht ein bisschen Eindruck, aber dann … Aber es ist ganz klar, dass es überall in Europa eine Entwicklung gab, so Ende der 1980er-Jahre, Anfang der 1990er, wo wir wirklich geglaubt haben, dass wir jetzt unterwegs sind zu einer kinderfreundlichen Gesellschaft, aber das ist lange vorbei. Mittlerweile geht es immer nur rückwärts.

BÖE: So unter dem Segel der Wirtschaft und Rentabilität? Ist das der Wind, der gerade bläst?

Jesper Juul:
Ja, der ist es. Die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik können ihre Ziele für die Kinderbetreuung in einer Art und Weise formulieren, die sich sehr gut anhört, aber sie kennen ja die Praktiker nicht. Und man muss sagen, in Dänemark, Norwegen und Schweden haben wir ein Faktum, dass sehr beruhigend ist im Vergleich zu Österreich und Deutschland usw. Die Pädagogen in Skandinavien werden sehr gut ausgebildet und auch sehr gut bezahlt. Hier in Österreich ist es eine Katastrophe. Da muss man buchstäblich einen Sponsor heiraten, um von diesem Gehalt überleben zu können. Und das ist auch ein Signal, um das sich eine Regierung kümmern muss.

BÖE: Eine letzte Frage: Was würden Sie sagen – was würden kleine Kinder in der „preschooleducation“ brauchen? Was müsste eine Einrichtung geben, damit ein kleines Kind unter 6 Jahren auf allen Bedürfnisebenen satt wird?

Jesper Juul:
Vor allem brauchen Kinder unter sechs Jahren Fürsorge. Es gibt mehr und mehr hervorragende Forscher in Dänemark, die sagen: „Jetzt geht’s nicht mehr!“ Sie sehen sich in den Einrichtungen um und sehen mehr und mehr Kinder, die alleine sind, die apathisch herumsitzen, die sich nicht an Erwachsene wenden können, weil es nicht genügend Betreuer gibt. Ja, Fürsorge vor allem. Es gibt ja diese alte Trennung zwischen Spiel und Lernen, das ist für mich ein bisschen dumm, weil Spielen ja Lernen ist … Aber natürlich sollte man im Kindergarten nicht „Schule“ machen. Dass man neben Motorik, Sprache und Kreativität spielerisch das Gehirn stimuliert, ist ja wunderbar, wenn es nur nicht ein Befehl von oben ist. Wenn nicht die Schulen sagen: „Jetzt wollen wir aber, dass die Kinder, wenn sie zu uns kommen, schulreif sind!“ Das heißt, dass sie still sitzen können, gehorsam sind usw. Die Schwierigkeiten kriegen dann die Familien, wenn die Kinder sich diesem Druck nicht mehr anpassen können, nur dann eben, drei vier Jahre länger – oder früher.

BÖE: Jesper Juul, danke für das Interview!

Jesper Juul, 1948 in Dänemark geboren, ist Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, Konfliktberater und Buchautor. Er war bis 2004 Leiter des „Kempler Institute of Scandinavia“, das er 1979 gründete. Ziel seiner Arbeit ist es, die Eltern bei der Suche nach neuen Wegen in der Erziehung zu unterstützen und nicht, sie in ihrem Versagen zu bestätigen, was ihnen, so Jesper Juul, jedoch regelmäßig widerfahre, wenn sie in ihrer Hilf- und Ratlosigkeit Erziehungsexperten wie Psychologen und Therapeuten, konsultierten. Jesper Juul berät Familien in ganz Europa und ist Gründer des Familylab (www.familylab.at).

Jesper Juul ist Autor von etwa 20 Büchern, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Als seine Standardwerke gelten „Das kompetente Kind“ sowie „Die kompetente Familie“.

Das frische BÖE-Interview mit Jesper Juul fand am 8.10.2011 in der Gastmeisterei anlässlich eines Vortrages zum Thema „Aus Erziehung  wird Beziehung“ statt. Eingeladen dazu hatte die Freiraum-Schule und Kindergruppe Wasserfloh Kritzendorf (www.wasserfloh.at).