Veranstaltete Kindheit: Bildung im Schatten der Ökonomie

IMG_4937_kleinDie Idee, dass Kinder angemessen und mit guten Chancen nur dann aufwachsen, wenn man sie zu einem möglichst frühen Zeitpunkt ihres Lebens ver-anstaltet, und dass darum die Ver-anstaltung ‚flächen-deckend‘ sein müsse, ist eine relativ junge Erfindung. Sie hat sich als moderne Selbstverständlichkeit erst im Laufe meiner Lebensgeschichte etabliert. Bei einer so jungen Selbstverständlichkeit ist es vielleicht gerade noch möglich, die Bedingungen ihres Zustandekommens und ihrer Einbürgerung zu ergründen.

Ich erinnere mich daran, dass in meiner Kindheit, also im Vorschulalter, an eine Wegsperrung der Kinder aus dem gesellschaftlichen Leben nicht gedacht wurde, und zwar nicht deshalb, weil das traute Familienleben zu der Zeit noch so intakt gewesen wäre, dass man dergleichen kompensatorische Maßnahmen nicht zu denken hätte brauchen. Im Gegenteil, viele Männer kehrten aus dem Krieg nicht mehr zurück – die Frauen mussten berufstätig sein und waren mit der Durchbringung ihrer Kinder im Wesentlichen auf sich selbst gestellt. Dennoch breitete sich die Kindergartenidee nicht epidemisch aus. Und wenn ich mich richtig erinnere, gab es dafür auch keine Notwendigkeit.

Sie haben sich die Situation im Nachkriegs-Hamburg nicht idyllisch vorzustellen: Es gab nichts zu essen und nichts zu heizen, es gab selten Strom und fast nie Gas zum Kochen. Aber eines gab es für die Kinder: Platz, Raum, der ihnen gehörte, nicht in den Wohnungen, da herrschte Gedränge. Der selbstverständliche Ort des Kinderlebens war die Straße, die ungefährlich war, weil sie den Kindern und nicht den Autos zustand. Sie bot Fläche fürs Fußballfeld, für Schlagball, für gemeinschaftliches Tauspringen am 10 Meter langen Seil, für Mannschaftsspiele aller Art. Und die Bodenstockwerke der Häuser, die nur durch Feuertüren getrennt über ganze Straßenzüge miteinander verbunden waren, boten Versteck- und Verschanzungsmöglichkeiten, bei den kriegerischen Auseinandersetzungen und Belagerungen feindlicher Parteien. Die Kinder waren der unmittelbaren Einflussnahme der Erwachsenen entzogen, aber sie waren doch unter Beobachtung. Passanten gingen vorüber, Fenster wurden geputzt – dabei entstand an der Nahtstelle zwischen Drinnen und Draußen ein flüchtiger Blickkontakt – Nachbarinnen blieben zu einem Tratsch stehen. Die Gemüseladenfrau trat vor den Laden, wenn keine Kundschaft sie beschäftigte, der Laternenanzünder radelte vorüber… Überall waren Augen, die auf die Kinder in beiläufiger aber schützender Weise achtgaben. Und die Kinder passten aufeinander auf, verführten sich wohl auch gelegentlich zu kleinen Schurkereien oder riskanteren Unternehmungen. Sie kannten sich zu Dutzenden, Große und Kleine bildeten Spielgemeinschaften. Mütter konnten also im Wesentlichen unbesorgt, soweit man eben unbesorgt sein kann, die Kinder ihrer Wege gehen lassen.

Verglichen mit dieser Kinderwelt erscheint mir jeder Kindergartenplatz als eine Einsperrung zum Zwecke pädagogischer Maßnahmenvollstreckung. Die Überführung aus der Lernlandschaft in die Lernanstalt. Die Städte, in denen Kinder heute aufwachsen, sind nicht in gleicher Weise verwüstet wie die Nachkriegsstädte meiner Kindheit. Aber sie sind für die Kinder Nichtorte, Stätten, in denen sie nichts zu suchen und nichts verloren haben. Vielmehr sind sie in ihnen verloren.

Dem Raum, in dem sich meine Kindheit abspielte, konnten wir, die wir ihn belebten, unsere Spuren einzeichnen. Wir gestalteten ihn, er wurde, was er in unserer Phantasie sein sollte. Ja, er wurde als Raum durch uns erst erschaffen. Unser Dasein machte ihn zu einer Umgebung, die lernträchtig und erfahrungsträchtig war und unsere Imagination beflügelte. Ich bin nicht bereit die Notwendigkeit, die Kinder heute aus den öffentlichen Räumen wegzusperren, weil diese zu gefährlich für ihr Überleben geworden sind, als eine soziale Errungenschaft zu feiern!

Damit bin ich bei meinem eigentlichen Thema. Die Ver-anstaltung von Kindheit und Jugend, vom Kindergarten über die Schule bis zu Berufs- und Hochschule, ist ja nicht nur eine Maßnahme, um die junge Generation vor den Gefahren der modernen Lebenswelten zu schützen. Sie ist die Folge ganz genuiner Absichten und Zwecksetzungen. Sie entspricht pädagogischen Vorstellungen und gesellschaftlichen Erwartungen.

Die Erfahrungen meiner Kindheit und das Lernen heutiger Kinder in ihren zubereiteten Lernwelten haben beinah nichts miteinander gemein. Mit mir hatte während meiner kindlichen Welteroberungszüge niemand etwas vor. Ich war mir darin selbst überlassen und wurde nicht von mir verborgenen geheimen Absichten und Drahtziehereien gelenkt. Lernen ereignete sich als ein unvermeidliches Begleitphänomen des Lebens. Es war mir erlaubt, und das sehe ich heute als ein unerhörtes Privileg an, mich zu bilden. Oder wie Goethe gesagt hat, meine Persönlichkeit im tätigen Weltumgang herauszubilden. Mein Lernen war nicht um-zu-isiert, will sagen: nicht Mittel für Zwecke außerhalb seiner selbst. Das soll nicht verwechselt werden mit modernen Schwärmereien von dem Recht des Kindes auf spielerischen Umgang im Schonraum der Kindheit. Es gehört mit zum Privileg meiner Kindheit, dass ich am Ernst der Erwachsenenwelt in einem substantiellen Sinne teilhatte und von der penetranten Sonderbehandlung, die heute als kindgemäß angesehen wird, und der unendliche Grübeleien über Unter- und Überforderung und entwicklungspsychologischer Angemessenheit vorausgegangen sind, weitgehend verschont blieb.

Um also das Privileg, das ich genossen habe, im Vergleich zu heute aufwachsenden Kindern richtig zu begreifen, muss man des Unterschieds zwischen ’sich bilden‘ und ‚gebildet werden‘ eingedenk sein. Die Bildung, die dem ‚Sich-Bilden‘ entspringt, ist – in welchem Lebensalter auch immer – ein Gemisch aus Tun und Geschehen, aus Aktivität und Ereignis. Sie findet statt an beliebigem Ort unter unvorhersehbaren Umstände, aber auch im Gefolge ernster Absichten und als Ergebnis durchdachter Erkenntnisschritt; sie kann schmerzlich und leicht sein, streng und leichtsinnig, schwer errungen oder mühelos zugefallen; Bildung, das ist dieses eigenartige Phänomen, dass einerseits der Mensch ein Wesen ist, das gar nicht anders kann, als zu lernen. Man kann nicht nicht-lernen. Und dennoch will sie unter Anspannung und Anstrengung aller Kräfte errungen sein. ‚Sich bilden‘ ereignet sich, wo sich jemand fragend und wachen Sinnes zu seiner Mitwelt verhält. Überall gibt es Menschen, von denen man irgendetwas lernen kann. Jeder ist dem anderen in irgendetwas überlegen, sodass er ihn etwas lehren kann. Wenn man neugierig darauf ist, wird
man herausfinden, was das jeweils ist. Wer lesen kann oder sich vorlesen lassen kann, verfügt über den reichen Erfahrungsschatz von Jahrhunderten. Auf vieles, was einem die Welt als Rätsel aufgibt, kann ich mir – ernste Hingabe und einige Erfahrung vorausgesetzt – selbst einen Reim machen, der auch nicht schlechter klingt als der sogenannt verbürgte.

Lernen also kann jeder. Und wunderbarerweise macht jemand, der auf diese Weise lernt, es niemand anderem streitig es auch zu tun. Sich bilden ist ein konkurrenzloses Unterfangen. Es hat einen Haken: Menschen ob Kinder, Jugendliche, Erwachsene oder Alte, die sich auf diese eigensinnige Weise bilden, lernen so für sich hin, aber sie lernen nicht, was sie lernen sollen.

Um überhaupt die Profession der Pädagogen zu legitimieren, musste erst eine ganz andere Vorstellung vom lernenden Menschen dominant werden. Nämlich die Vorstellung, dass der Mensch erst zu seinem menschlichen Wesen empor entwickelt werden müsse und, dass er ohne professionelle pädagogische Entwicklungshilfe gleichsam im Rohzustand verbleibe. Bildung erscheint jetzt als ein Vorgang, den jemand, der dazu berufen ist, oder sich dazu berufen glaubt, am andern vollstrecken muss. Bildung wird zu einer ‚Exekution‘. Nach dieser Umdefinition sind die Menschen – wiederum jeden Alters – mit einem Schlag darauf angewiesen, sich Lerngelegenheit gewähren und Bildung verpassen zu lassen. Auf einmal kann sich Bildung nicht mehr überall und zu jeder Zeit in jedweder Gestalt und überraschend ereignen, sie muss veranstaltet werden. Die zu lernbedürftigen Mängelwesen gemachten Individuen müssen sich ihre Bildung dort abholen, wo sie ihnen verabreicht wird, zu der Zeit, die dafür vorgesehen ist, unter Umständen, die von den Veranstaltern als optimal lernträchtig erachtet werden, auch wenn sie den ‚Veranstalteten‘ als unheilvoll oder mindestens belanglos erscheinen mag.

Unter diesem Regiment der gültigen Bildungsidee beginnt meine Bildungsgeschichte überhaupt erst mit dem Schuleintritt, und meine Straßenbildung erweist sich als irrelevant. Wollte ich auf sie pochen, um mir gesellschaftliche Anerkennung einzufordern, so würde ich mich zur Närrin machen. Aber das entspricht überhaupt nicht meiner eigenen Erfahrung. Ich bin überzeugt, dass ich in den Bildungsinstitutionen unendlich viel Behinderung erfahren habe, dass in ihnen Begeisterung verödete, dass mir wichtige und wissenswerte Kenntnisse verleidet wurden und dass ich das Wichtigste von Lehrern lernte, die mit mir keine pädagogischen Absichten verfolgten, sondern mir an ihrem reichen Erfahrungsschatz Anteil gaben.

Diese Einschätzung ändert jedoch nichts daran, dass alles, was nicht in geordneten und verordneten Bildungsgängen gelernt wird, eine radikale Entwertung erfährt. Wo Kindergärten, Schulen und Hochschulen sich etablieren, bricht Bildungsdürre aus. Mit einem großen Kahlschlag machen sie ihr Umfeld zur Lernwüste. Sie reklamieren für sich ein radikales Vertriebsmonopol in Sachen Bildung und erklären alles Lernen, das sich außerhalb ihrer Einflusssphäre ereignet, für null und nichtig. Jedes eigenmächtige Lernen erscheint unter dieser Vorgabe als ‚Schwarzlernen‘. Schwarzlernen, das ist das Pendant zur Schwarzarbeit, wie diese ohne Beziehung zum organisierenden Zentrum, von ihm weder veranlasst noch kontrolliert, unabhängig von dem Monopolanspruch des öffentlichen Bildungssystems und darum den Bildungsmonopolisten ein Dorn im Auge.

Ich habe viel für das Schwarzlernen übrig, weiß aber, dass viele Mittel recht sind, um es zu entmutigen. Zuallererst: Mit dem Schwarzlernen ist kein Staat zu machen. Was man dreist auf eigene Faust lernt, bringt einen nicht voran auf der Stufenleiter der Bildungshierarchie. Es zahlt sich für die Karriere nicht aus. Man muss schon ein sehr unabhängiger Geist sein und eigentlich auch – wie Schopenhauer – über ein kleines Vermögen verfügen, um aufs Bildungsmonopol zu pfeifen und auf eigene Faust bildungsselig zu werden.

Zweitens ist es gelungen, den Glauben zu nähren, dass ordentliche, solide und seriöse Bildung nur in den dafür vorgesehenen Einrichtungen erworben werden kann. Weil Bildung durch sie „legitimiert wird, besteht die Neigung, alle nicht institutionelle Bildung als Zufall, wenn nicht als Fehltritt anzusehen“ schreibt Ivan Illich. Der Autodidakt, der Selbstlerner, ist heutzutage eine lächerliche Figur, schon
im Kindesalter, der Inbegriff der Scharlatanerie.

Drittens halten es auch die Eltern, die es gut mit den Kindern meinen, lieber mit der ordentlichen, der verfassten Bildung. Sie haben gelernt, ihre Sprösslinge von Geburt an, wenn nicht schon im pränatalen Stadium als künftige Schulabsolventen zu betrachten. Mit Sorge beobachten sie, ob sich die Kleinen schultauglich entwickeln, und wo nicht, da wird ihrer Schulverträglichkeit nachgeholfen.

Viertens wachen auch die Pädagogen eifersüchtig darüber, dass sich nicht herumspricht, dass man auch ohne sie gebildet werden kann. Es hängt ja ihre berufliche Existenz daran. Wo sich aber die kasernierte Bildung durchgesetzt hat, da hat die Welt als Bildungsstätte ausgedient. Man wird nicht mehr in ihr und durch sie gebildet, sondern über sie belehrt. Vielleicht nimmt die Leichtfertigkeit, mit der die Welt heute ruiniert wird, auch deshalb so ungehemmt ihren Lauf, weil die Welt als Bildungsstätte ausgedient hat. Das Umfeld, in dem wir leben, ist gewiss kein wirtlicher Ort. Es wird nicht dadurch besser, dass wir überall pädagogische Ersatzorte mitten in die Wüstenei stellen.

Wir sind gegenwärtig Zeugen der endgültigen Indienstnahme des Bildungswesens durch die Ökonomie. Mit einer unglaublichen Frechheit und Dreistigkeit dringt der ökonomische Sektor darauf, dass im öffentlichen Bildungswesen den Schülern eingebleut wird, was den Konzernherrn nützlich und profitabel dünkt, ganz nach der Manier der Fabrikherren des Industrialisierungszeitalters. Überhaupt ist von Bildung immer weniger die Rede, sondern nur noch von Ausbildung – also Zurichtung für die Arbeitswelt – das bedeutet das Aus für die Bildung. Bildungsstätten an sich sind ja schon trostlose und ent-geisternde Orte. Als Ausbildungsstätten haben sie die letzte Spur akademischen Geistes in sich getilgt – mit unabsehbaren Folgen. Und dennoch findet diese Mutation den Beifall aller, der Lehrer, der Schüler, der Eltern und der Bürokraten. Woher die Begeisterung für die Ausbildung? Man erhofft sich davon die besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt, für den man sich gern zurichten lassen will, obwohl es ihn schon gar nicht mehr gibt. Mit der beflissenen und gefälligen Anpassung an die Arbeitsmarkterfordernisse wird ja kein einziger Arbeitsplatz zusätzlich geschaffen. Nur der Konkurrenzkampf wird härter, dieses Nullsummenspiel, bei dem man nur gewinnen kann, wenn andere verlieren.

Der Ausbildungswahn erfasst immer frühere Lebensalter. Wenn die Kindergärten sich als Vorschulen, als Schulvorbereitungsphase begreifen, dann sind sie ihm hoffnungslos verfallen. Ich weiß nicht, ob Sie, die Sie dort arbeiten noch die Chance haben, sich dieser Zumutung zu verweigern. Es kommt auf den Versuch an, der könnte Ihre wichtigste Aufgabe sein.

Univ. Prof. Dr. Marianne Gronemeyer, geb. 1941, acht Jahre Lehrerin an der Haupt- und Realschule, Zweitstudium der Sozialwissenschaften, zurzeit Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Wiesbaden.

Der Text ist einem Referat zur Kindertagesstättenfrage entnommen.