Bedeutung und Sinn des Abschlussprojekts

Fast jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer hat beim Startmodul eines Bildungszyklus Bammel, wenn er/sie das Wort Abschluss hört; sofort steigen dazu Erinnerungen von (verhauten) Prüfungen und stressigen Tests aus Schulzeiten auf. Nicht von ungefähr benennen es beim Abschluss-Start-Wochenende noch immer einige aus der Gruppe als „Prüfung“: Haben wir etwas gelernt, werden wir das Gelernte abgefragt und sollen es möglichst fehlerfrei wiedergeben – so sind wir es gewohnt.

Im Bildungszyklus gibt es solche Prüfungen nicht – warum nicht? Eine Prüfung mit Benotung würde hauptsächlich bestätigen, dass die/der Geprüfte sich etwas „Vorgekautes“ (Angelesenes, Gehörtes) merken konnte und nacherzählen kann. Die Vizerektorin der Webster (Privat-)Universität in Wien erzählte mir vor kurzem, die Universität habe nun Zusatzkurse in der Studieneingangsphase z. B. für Mathematik eingeführt, da sogar Studierende mit der Maturanote 2 = Gut in Mathematik den bisher angebotenen Kursen nicht mehr folgen können. Obwohl also eine höchst offizielle Prüfung bestätigt hat, dass sie in diesem Bereich „gut“ sind, haben sie eigentlich keine Ahnung. Sie haben vermutlich in der Schule gut gelernt, sich auf Prüfungen vorzubereiten, aber VERSTANDEN haben sie wenig.

Der Sinn des Bildungszyklus ist es aber, sich Wissen nicht nur anzueignen – Wissen über Kinder und ihre Entwicklung, darüber, wie ich respektvoll mit Kindern umgehe, über meine eigenen Verhaltensmuster und darüber, wie ich meine Einstellungen und Haltungen verändere –, sondern in meinem täglichen Verhalten eine kompetente Begleitung für „kostbare“ Kinder zu werden.

Der gesamte Bildungszyklus zielt darauf ab und der Abschluss des Bildungszyklus soll dieser Arbeitsweise und dieser Lernhaltung ebenfalls entsprechen: also selbst lernen und Erfahrungen machen statt etwas nachzumachen; auf das schauen, was gelungen ist; Fehler machen dürfen, weil ich etwas bis zum Fehler (noch) nicht besser weiß, aber durch den „Fehler“ erkenne, dass es so nicht gut läuft; das Gelungene wie das nicht Zufriedenstellende reflektieren und erkennen, was das mit mir zu tun hat; mir neues Wissen durch Lesen und Recherchieren, Hospitieren bei Kolleginnen/-en im Bildungszyklus oder in der eigenen Institution etc. selbst aneignen.

Ganz zu Beginn der Entwicklung des Bildungszyklus schlossen die Teilnehmenden ihre Ausbildung einfach mit dem Besuch des letzten der damals in den meisten Bundesländern geforderten 10 Module ab; gesetzliche Veränderungen sowie das Bestreben, diese Ausbildung als allgemein anerkannte berufliche Qualifizierung in Tagesbetreuungsgesetzen, Krippengesetzen (usw.) zu verankern und damit den Ausgebildeten eine stabile berufliche Zukunft zu sichern, führten im BÖE zu Überlegungen, wie diese Aufwertung in den Augen der Öffentlichkeit aussehen könnte. Dass es ein Zertifikat braucht, um die Leitung einer Gruppe zu übernehmen, ist nachvollziehbar und eine besondere Motivation, auch diesen Teil des Bildungszyklus entsprechend engagiert zu absolvieren.

Wie kommen die TeilnehmerInnen nun zu „IHREM“ Abschlussprojekt?
Manchmal tauchen Gerüchte auf, dass Grete Miklin (vom BÖE) oder ich (z. B. als Referentin) Themen „zuteilen“ würden – ganz im Gegenteil! Während des Abschluss-Start-Wochenendes unterstützen wir die einzelnen TeilnehmerInnen intensiv dabei, ein Thema zu entwickeln, dass ihnen in genau ihrer Arbeitssituation einen wichtigen Entwicklungsschritt bringen wird. Das ist unsere Ausgangs-Bedingung: Das Projekt muss mit meinem Arbeitsalltag zu tun haben, so dass ich danach wirklich eine Veränderung, einen Erfolg, eine Verbesserung sehe – oder manchmal auch die Erkenntnis gewinne, dass ich nicht genug verändern kann und deshalb besser in einer anderen Betreuungseinrichtung aufgehoben bin, die mehr meiner Arbeitsweise entspricht. Die Suche nach einem anderen Arbeitsverhältnis ist dann oft eher eine Befreiung, da durch das erfolgreiche Abschlussprojekt eine größere Sicherheit gewonnen wird, dass die eigene Arbeitsweise kindgerecht ist und ich damit eine gute Arbeitsstelle bekommen werde.

Es ist nicht immer leicht, sich auf EIN Thema festzulegen: Wir freuen uns, dass es für viele TeilnehmerInnen ein wichtiges Anliegen ist, sich mehr an den kindlichen Bedürfnissen im Alltag zu orientieren, dem Beobachten der Kinder mehr Zeit einzuräumen, Tagesabläufe umzuorganisieren, Räume oder Situationen anders und neu zu gestalten (z. B. das Wickeln oder den Morgenkreis).

Wir verlangen den Einzelnen dabei ab, zuerst zu erkennen: „Womit bin ich unzufrieden?“ und sich dann Gedanken zu machen, wie sie/er es ändern kann. Das braucht auch das Selbstvertrauen, dass ich dazu in der Lage sein werde! Ich muss Argumente für meine Ideen (z. B. bei der Leitung) finden, neue Schritte setzen und auch manches von dem im Bildungszyklus Gelernten anwenden.

Gleichzeitig ist dieser Punkt am schwierigsten für viele: Da so manche/r TeilnehmerIn in Kindergarteneinrichtungen arbeiten, mit sehr viel vorgegebenen Strukturen und vielen Bastelarbeiten, ist oft die Erwartung, dass das Projekt vor allem den Kindern etwas Neues bieten soll. Aber das ließe sich sehr einfach aus Büchern (oder dem Internet) herausholen und umsetzen; das braucht wenig eigenes Denken im Vergleich dazu, wie viel für MICH neu ist, wenn ich genau hinschaue, was welches Kind wann braucht! Wir begleiten jede/n dabei, ein Thema zu erarbeiten, das dem pädagogischen Zugang des Anderen Umgangs, dem Bild des gleichwürdigen Kindes und dem Betreuen als Begleiten des Kindes entspricht, abgestimmt auf die jeweilige Situation in der Arbeit und auch auf die Person, die derzeitige Lebenssituation, so dass die Projektthemen auch die Unterschiede zwischen den Menschen respektieren.

Beim Abschluss-Start-Wochenende baut also jede/r ihr/sein eigenes Konzept für das eigene Projekt in einem detaillierten wöchentlichen Konzept auf, unterteilt es in wichtige Arbeitsschritte, so dass in den kommenden Monaten der rote Faden jederzeit klar ist. Denn das ist für die meisten von uns eine neue Lernerfahrung, die über das jetzige Abschluss-Thema hinaus auch  neue Erkenntnisse bringt, wie ich an komplexe Fragen herangehen und mir ein neues Ziel erarbeiten kann. In diesem Konzept schreibt jede/r sich die wichtigsten Fragestellungen auf und muss sich dabei in die Schuhe der Kinder (oder Eltern oder Kolleginnen/en) versetzen, um die weiteren Schritte zu planen. Ich muss mir selbst schon überlegen, welche Gespräche ich mit wem wie führen sollte oder wie ich mich selbst in schwierigen „Durchhänger“-Phasen motivieren und meinen Plan weiter verfolgen kann.

Im Laufe des Projektzeittraums von etwa drei Monaten erleben die Teilnehmenden viele Veränderungen durch ihr Projekt; nicht nur bei sich selbst durch neue Erfahrungen und neues Wissen. Oft ergibt sich auch ein neuer Kontakt zu Eltern bestimmter Kinder oder den Eltern im Allgemeinen und damit eine verbesserte Zusammenarbeit und mehr Verständnis durch intensivere Gespräche mit den Eltern eines Kindes. Indem ein/e BetreuerIn sich ganz auf das Kind und seine Eltern einlässt, können z. B. „andere“ Erwartungen von Eltern mit Migrationshintergrund geklärt werden, die sich oft eher eine „Vorschule“ vorstellen, weil in ihrer Kultur, egal ob Türkei oder Asien, Erfolge im Lernen ganz hoch bewertet werden und eine Familie das „Gesicht verliert“, wenn das Kind weniger vorzeigbare Leistungen nach Hause bringen kann. Insgesamt ist eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern und somit die intensivere Verbindung von häuslicher und außerhäuslicher Welt ein riesiger Gewinn für jedes Kind.

Die Projektdurchführungsphase verändert auch die eigene Position im Team und das Verhältnis zu Kollegen/innen und zur Leitung. Verantwortungen können neu verteilt werden, der Austausch über pädagogische Themen wird intensiver und viele erfahren mehr Anerkennung von außen, was oft nach dem Abschluss durch eine bessere Stelle (vielleicht als LeiterIn einer Gruppe) belohnt wird. Die Teamarbeit kann sich verbessern, da ein Team generell nur so gut arbeitet wie seine „schwächsten“ Mitglieder.

Auch die abschließende Präsentation des eigenen Projekts – statt einer Prüfung – ist für fast alle ein ganz neues Erlebnis: Ich stelle mich selbst und meine eigenen Erfahrungen und mein daraus entstandenes Wissen 40 Minuten lang ins Zentrum der Aufmerksamkeit der ganzen Gruppe, die sich aus Kollegen/innen und der „Kommission“ zusammensetzt! Ich reflektiere meine Beobachtungen und „verteidige“ meine Sicht, beantworte die weiteren Fragen zu Schritten, die ich unternommen habe, und den Erkenntnissen daraus; ich kann meine Veränderungen stolz präsentieren. Ein kleiner willkommener Nebeneffekt ist wohl für viele auch, dass sie sich neue Kenntnisse im Umgang mit dem Computer erarbeiten und im Internet besser recherchieren können.

Bereits während des Abschluss-Start-Wochenendes fragen wir jede/n Teilnehmende/n nach dem persönlichen „Gewinn“, den sie/er für sich aus dem Projekt erwartet. Das, was sie schon zu Beginn vermuten, können sie oft später bei der Präsentation ihrer Ergebnisse deutlich zeigen: nämlich wesentliche Veränderungen in ihrer Arbeitsweise und ihrem Wissensstand. Aber das Wichtigste ist wohl immer die Zufriedenheit mit sich selbst und der Stolz darüber, was ICH da geschafft habe! Zusätzlich hat jede/r aus der Gruppe noch einen großen Gewinn durch die Projekte an sich: Jede schriftliche Fassung der einzelnen Projekte wird an alle weitergegeben, d. h., alle können auf die in ähnlichen Situationen gesammelten Erfahrungen zugreifen, sich wertvolle Anregungen holen und nachlesen, wie die Kollegen/innen schwierige Situationen bewältigt bzw. verändert haben – ein wahrer Wissensschatz, der für viele Jahre Hilfestellung geben kann.
Und natürlich geht es bei dem ganzen Projekt hauptsächlich um den Gewinn für die jetzt betreuten Kinder und für alle, die in Zukunft von den nun besser ausgebildeten Betreuungspersonen begleitet werden: wirklich beobachtet werden und gezielt Unterstützung erhalten; NEU gesehen werden (dazu gehört auch der Austausch mit meinen Kolleginnen/-en und in Folge entstehen vielleicht so aufgrund der Beobachtungen der BetreuerInnen neue Ideen oder spannende Angebote für die Gruppe und für den Ablauf. Und: Kinder haben daraus starke kompetente Frauen und Männer als Vorbild, denn mehr Expertenwissen gibt den Bildungszyklus-AbsolventInnen mehr Sicherheit im Alltag und einfach ein neues „Standing“!

Dr. Maria Menz hat Germanistik, Linguistik und Psychologie studiert und ist ausgebildete Mediatorin, Systemische Familienaufstellerin und Supervisorin. Sie blickt auf sechs Jahre Kindergruppenerfahrung als Mutter und Obfrau einer Kindergruppe in Wien zurück und leitet für den BÖE Seminare zu „Teamarbeit und Organisation“, „Kommunikation und Konfliktstrategien“, „Mit Eltern partnerschaftlich zusammenarbeiten“ sowie die Seminare zu den Abschlussprojekten. Maria ist ehemalige BÖE-Koordinatorin und nun schon seit 20 Jahren als Referentin im BÖE-Bildungszyklus tätig.