„Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“

Opa GT in Oberndorf 106_kleinvon Karin Kaiser-Rottensteiner, erschienen in der frischen böe Nr. 77, Oktober 2010

Viel wird geklagt über die Kinder von heute: sie wären viel schwieriger geworden, Hyperaktivität nähme immer mehr zu, sie wären grenzenloser, ungehorsamer, tyrannischer, unmotivierter, unkonzentrierter, leistungsunwilliger, könnten bereits im Kindergartenalter nicht mehr spielen, wären später die großen Pisa-Verlierer und so weiter und so fort.

Jedoch: Was, wenn die Kinder gar nicht dafür verantwortlich wären?
Was, wenn wir Großen hinschauen müssten, wie sich die gesellschaftlichen Bedingungen verändert haben?
Was, wenn wir unser Mitschwimmen im so genannten Mainstream reflektieren müssten? Was, wenn wir die Verantwortung dafür übernehmen würden, den Kindern das, was ihr Recht ist, wieder zurückzugeben:
ihr Recht auf Kindsein
ihr Recht auf kindgemäßen Lebens- und Spielraum, Experimentier- und Abenteuerraum
ihr Recht auf Lernen mit allen Sinnen,
ihr Recht auf Verspieltsein, Kindischsein,
ihr Recht auf den Status Kind!

Elternverwaltete Kindergruppen, die großen Wert auf den „Anderen Umgang“ mit Kindern legen, decken meines Erachtens viele dieser Punkte ab. Ich meine, dass es viel Mut braucht, mit Kindern andere Wege zu gehen, viel wechselseitige Bestärkung, viel Reflexionsvermögen und nicht zuletzt auch die Bereitschaft, viel Zeit für die Umsetzung aufzubringen. Zeit, die für die meisten Erwachsenen unserer Gesellschaft Mangelware ist. Wir leben beschleunigter (Klettverschluss statt Schuhbänder), wir lassen uns beschleunigen, wir beschleunigen unser Kinder mit.

 

Herzensbildung

Betrachte ich die Forderungen nach Bildungsplänen für die ganz Kleinen, drängt sich mir schnell der Ruf nach dem wichtigsten Punkt auf: „Herzens-Bildung“! Und zwar in erster Instanz für uns Erwachsene, sind wir doch, mit allem, was wir sagen, tun und sind, das unmittelbare Vorbild der Kinder, ahmen sie doch all das, was ihnen vorgelebt wird, mit großer Begeisterung nach.

Also ist es wohl in erster Instanz unser Auftrag, eigene Haltungen und Werte zu reflektieren, bevor wir uns auf die Kinder „loslassen“!
Wie halten wir es z.B. mit unserem Lebenstempo, wie schaut unser Terminkalender aus, wie „multitaskingfähig“ sind wir? Wie schauen unsere Trampelpfade aus, unsere Routine, unser Hamsterlaufrad? Es tut gut, immer wieder herauszutreten und selbstkritisch uns, das Vorbild der Kinder, unter die Lupe zu nehmen.
Ein Satiriker meinte einmal, wo auf den Grabsteinen der Jetztzeit steht: „Ruhe sanft!“, wird bei uns, der beschleunigten Generation, draufstehen „Wollte später leben!“. Oder, um mit John Lennon zu sprechen: „Leben ist das, was passiert, während wir eifrig dabei sind, andere Pläne zu machen!“

Nossrat Peseschkian, Begründer der Positiven Psychotherapie, meinte einmal, dass jedes schwierige Verhalten, das uns ein Kind zeigt, eine Fähigkeit ist, um auf einen Mangel aufmerksam zu machen. Das würde bedeuten, dass uns Kinder, die schwieriges Verhalten zeigen, letztlich auch einen Weg weisen, möglicherweise spiegeln sie auch ihr Umfeld wieder. So könnten „zappelnde Kinder“ vielleicht ein Spiegelbild unseres eigenen chronischen Aktionismus sein, unserer Flucht vor uns selber…

 

Hilfreiche Fragen

Jesper Juul meint, Kinder in unserer Gesellschaft wären ab zwei Uhr nachmittags überstimuliert, reizüberflutet und bräuchten dringend NICHTS, Auszeit. Eine Pause, die Heilraum für den Körper-Geist-Seele-Haushalt sein kann. Gerade das ist aber oft die Zeit, wo das Freizeit-Programm oft erst losgeht, unter dem Motto: „Ballett, Fußball, Geige und Chinesisch für Windelträger!“

Einige sehr hilfreiche, banal klingende Fragen in diesem Zusammenhang wären:
–    Was ist wesentlich und sinn-voll?
–    Was sind die wesentlichsten Bedürfnisse der Kinder?
–    Wo brauchen wir Mut, einfach nicht mitzuspielen, uns abzugrenzen, Nein zu sagen?

Wir kennen die Antworten und vieles davon wird meines Erachtens in elternverwalteten Kindergruppen umgesetzt. Ich möchte hier auf ein paar wesentliche Punkte eingehen, die dabei die Vielzahl der Möglichkeiten nicht vollständig wiedergeben:
Kinder haben grundsätzlich zwei ganz wesentliche Bedürfnisse: das eine ist das Bedürfnis nach Bindung (Eingebundensein, Sich-sicher-fühlen), das andere ist das Bedürfnis nach Wachstum (Neugierde als Antriebsmotor, Freude am Tun, Eigenständig werden). Kinder, die in einer Kindergruppe gut gelandet sind und sich sicher fühlen, haben die Fähigkeit, über sich selbst hinauszuwachsen, indem sie mit allen Sinnen lernen, indem sie Akte der Kreativität setzen können, indem sie durch eine „Ich-Kann-Es“-Haltung Selbstwert beziehen, indem sie die Freude am eigenen Tun mit anderen teilen können.

 

Mut zur Entschleunigung

Hierfür brauchen wir keine neuen Methoden und Projekte, die am Tagesplan stehen, sondern vor allem
–    den Mut zum Vereinfachen, zum Reduzieren auf das Wesentliche -auch dafür sind wir Erwachsenen zuständig. Das uns und den Kindern gemäße Tempo ist ein Tempo der Achtsamkeit – ganz bei einer Sache sein, mit allen Sinnen.
–    die Anerkennung, dass „Talent sich in der Stille bildet“ (Schiller).. Zeiten der Stille, wo gar nichts passiert, stellen einen wichtigen Teil im Kindergruppenalltag dar – nichts-müssen, sein-lassen, Inseln der Ruhe anbieten, zulassen und aushalten. Hieraus hat sich für mich eine wichtige Regel im Alltag mit Kindern herausgebildet, nämlich: „Kinder nicht beim Nichtstun stören!“ Kinder sind noch Meister der Meditation, des bei-sich-selber-seins.
–    die Anerkennung, dass erst Langeweile Kreativität hervorbringt – stellen wir uns nämlich als Service-PädagogInnen zur Verfügen, bedienen wir die Kinder mit Programm, müssen sie gar nicht eigenständig etwas aus sich selbst heraus kreieren und verlernen den Wert der eigenen schöpferischen Kraft.
–    die Klarheit, dass Spielen die kindgemäße Lernform ist. Kinder lernen (wenn sie dürfen) alles spielerisch, was sie zum Weitergehen brauchen (Maria Montessori spricht hier auch von „Arbeitshaltung“).

 

Bildung geschieht

Ich meine, wir können die Kinder wirklich mehr in Ruhe lassen und bei uns selber schauen, bei uns selber lernen, uns selbst in unserer Entwicklung beobachten.

Zu guter Letzt ein paar „meditative Fragen“, die ich in der Elternarbeit immer wieder stelle und die dazu geeignet sind, sich in das Thema hineinfallen zu lassen:
–    Wann ist ein Kind ein Kind?
–    Was ist der Ernst des Lebens – wo beginnt er?
–    Darf ein Kind kindisch sein?
–    Darf ein Kind Langeweile haben, einfach einmal gar nichts tun?
–    Darf ein Kind seine Interessen selbst herausfinden?
–    Darf ein Kind seine Stärken UND Schwächen haben?
–    Darf ein Kind sein eigenes Tempo leben?
–    Darf ein Kind zu einem eigenständigen, selbstbestimmten, einzigartigen Wesen heranwachsen?

In Kindergruppen, die den Mut haben, Ja zu guten, neuen Wegen mit Kindern zu sagen, findet sich unglaublich viel und noch ganz viel mehr…
In Kindergruppen, die den Mut haben, sich abseits vom Mainstream zu bewegen, passiert ganz viel an Bildung!

Dr. Karin Kaiser-Rottensteiner ist päd. Psychologin, Erwachsenenbildnerin in den Bereichen Entwicklungspsychologie und Erziehungslehre für PädagogInnen und Eltern und Mutter von 3 Kindern.